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Die Holtgaster Heimat-Geschichte

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Das Kriegsende.  

Quelle:  "Beckersche Dorfchronik" 

Johann Becker schrieb 1946 aus dem Gedächtnis über den Zeitraum zuvor: "Gebrochen an Leib und – Seele will ich versuchen, meine angefangene Dorfchronik fortzusetzen. Die Geschehnisse der Jahre 1945 bis 46 haben uns derart betäubt, verängstigt, enttäuscht und zermürbt, dass man es kaum wagt, etwas zu sagen, geschweige denn zu schreiben. Noch sieht man nicht klar, wie sich die Zukunft auch für unsere Dorfgemeinde gestalten wird. Spitzel sind mehr denn je an der Arbeit, Mitmenschen zu verdächtigen, anzuschwärzen und zu verraten. Der Judas Ischarioth hat sein bestes Betätigungsfeld gefunden und nützt die günstige Gelegenheit voll für sich aus. Meine Chronik habe ich bislang versteckt gehalten. Sie wäre nicht erhalten geblieben, falls man sie gefunden hätte".

Der Abend als Holtgast brannte hat er als Augenzeuge folgendermaßen beschrieben: "Die letzten Kriegsmonate hatten auch unseren Ort schwer in Mitleidenschaft gezogen. Der 15. Oktober 1944 wird unvergesslich bleiben, als am Sonntagabend Wilhelmshaven von vielen, vielen Bombenflugzeugen in Trümmer und Asche gelegt wurde. Auch über Holtgast wurden viele Sprengbomben und hunderte von Brandbomben  abgeworfen. Bald brannten allerlei Getreidehaufen dicht bei den Häusern, z. B. bei Johann Frerichs, Hinrich Dresch, Jakob Jakobs und Rickelf Hinrichs. Das Haus von Gerke Sj. Gerken stand in hellen Flammen und brannte bis auf die Grundmauern nieder. Auch das Haus von Tjardes hatte Feuer gefangen, die Scheune wurde ein Raub der Flammen, während das Wohnhaus gerettet werden konnte. Überall flammten die abgeworfenen Brandbomben auf, ein schönes Bild und Feuerwerk, wenn es nicht so grausam gewesen wäre.

Waren wohl alle Sprengbomben krepiert oder lagen irgendwo noch lauernde Ungetüme mit Zeitzündern? Bei der Dunkelheit der Nacht war nichts mehr festzustellen. Die Straße nach Schweindorf, wo 7 Bauernhäuser aufbrannten, war hinter Feldmanns Haus von Schuttmassen überlagert, so dass sie nicht mehr befahrbar war.

Am nächsten Morgen sah man erst, was am Abend in unendlich langen Stunden von 7 bis 9 Uhr angerichtet worden war. Das Schulgebäude in erster Linie, dann aber auch viele andere Häuser, waren abgedeckt, die Fenster zersplittert, die Türen eingedrückt und die Mauern geborsten. Bei der Schule waren allein 60 Fensterscheiben entzwei, das Dach zeigte große Löcher, die Dachziegel waren ineinander geschoben. Etwa 30 m hinter dem Hause war ein tiefer Trichter, in dem das ganze Gebäude hätte hineingepackt werden können. Daneben ein verdächtiges kleineres Erdloch, in dem wir mit Recht einen Blindgänger vermuteten. Nach Absperrung und Räumung des Schulhauses von Menschen und Vieh wurde dieser Blindgänger von einem militärischen Kommando erst am Mittwoch ausgegraben und entschärft. Es war eine 250 kg – Bombe.

Verhängnisvoller war eine Zeitzünderbombe bei dem Hause der verstorbenen Gebrüder Jacobs, gepachtet von Johann Dirks. In der dunklen Morgenfrühe, als die Bewohner noch zu Bett lagen, krepierte diese Bombe und brachte das ganze Bauernhaus restlos zum Einsturz. Wie durch ein Wunder ist kein Menschenleben dabei zu Schaden gekommen, während die Tiere im Stall unter den Trümmern begraben wurden und umkamen. Auch das Platzgebäude von Rudolf Harms ging noch eine Zeitzünderbombe hoch, ohne erheblichen Schaden anzurichten.

Die meisten Bomben waren im Reihenwurf – Richtung Schule bis in den Loog hinein – abgeworfen worden. Eine Luftmine mit großem Luftdruck war nicht allzu weit von Gerkens Haus niedergegangen und hatte wohl großen Dach- und Fensterschaden angerichtet, aber bei all dem Unglück war nicht ein Mensch verletzt worden. Die meisten Menschen waren ins Freie geflüchtet und hatten sich platt in die Gräben gelegt.

Die Schulhausbewohner hatten die schrecklichen Stunden im Hausflur hinter dem Schornstein verbracht, zitternd und bebend an allen Gliedern, besonders als die Türen aufsprangen, die Dachziegel herunter prasselten, die Fenster zerklirrten und die Gardinen in Fetzen hin- und herwehten, magisch beleuchtet von dem roten Schein der brennenden Häuser und Getreidehaufen ringsumher.

Und was machten nun die berufenen Organisationen für solche Fälle? NLV, Feuerwehr? Sie waren bald zur Stelle kamen schon nach kürzester Zeit von Esens und von Wittmund mit dem Kreisleiter an der Spitze um zu helfen in erster Linie durch Speise und Trank! Die Schulkinder ließen es sich nicht nehmen den Bombentrichter hinter dem Schulhaus möglichst schnell wieder einzuebnen. „Nu erst recht!“ war ihre ständige Redensart, „wi laten uns nicht unnerkriegen, du Tommy!“

Der hat uns mit seinen Tieffliegern aber doch oft genug aus dem Schulzimmer vertrieben und nach Haus geschickt. Es war nicht mehr schön und kaum zu verantworten, noch so viele Kinder an einer Stelle zu versammeln. Hatten wir doch das furchtbare Ereignis in Esens, wo über 100 Schulkinder den Tod gefunden hatten, noch in lebhafter Erinnerung! So war wohl zu verstehen, wenn besonders angstvolle Mütter schon bei der geringsten Luftwarnung mit Herzklopfen an die Schultür pochten, um ihre Kinder nach Hause zu holen. Zuletzt wurden gottlob alle Schulen geschlossen. Es war ein geordneter Unterricht nicht mehr möglich.

Besonders  wurden aber die Züge angegriffen. Sie fuhren schließlich nur noch ganz selten und dazu auch nur während der Nacht. Ein Munitionszug wurde bei den „Schanzen“, wo der Weg nach Mimstede abbiegt, getroffen. Wohl gelang es dem Zugpersonal eine Reihe von Wagen abzukoppeln und aus dem Gefahrenbereich zu bringen, aber die Wirkung war auch so katastrophal und mehrere Mitfahrer kamen ums Leben. Noch zweimal erlebten wir einen Fliegerangriff".  

Zu dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" hat er uns dieses hinterlassen: "Als am 7.5.1945 das Deutsche Reich zusammenbrach, stand der Feind schon vor  den Toren Aurichs. Der Geschützdonner war hier gut zu hören. Der Volkssturm hatte die Feinde unmöglich aufhalten können, hatte er doch weder Waffen noch andere Ausrüstung!  Wochenlang wurden von ihm Panzersperren gebaut, ganze Waldreviere wurden abgeholzt, dringend notwendige landwirtschaftliche Arbeiten blieben liegen – dafür wurde geschanzt auf Befehl von oben! Wohl nicht einer von uns hat den Wert dieser Maßnahmen begriffen. Wir machten uns lustig über die für uns so saure Arbeit, die in unseren Augen nur Kinderei war im Angesicht der überwältigenden Materialfülle unserer Feinde.

Holtgast hatte nur eine Panzersperre vor dem Bahn- und Straßenübergang über den Kanal beim Ziegelhof gebaut und zwar am 1. Ostersonntag 1945. Allen Beteiligten wird der Tag unvergessen bleiben, wie wir im Regen mit sämtlichen Fuhrwerken Straßen- und Häuserschutt herbeischaffen mussten. Mir persönlich, der ich zum Führer des Volkssturmes ernannt war, ist dieser Tag nun ein heiliger Gedenktag geworden, denn an diesem Tage ist mein lieber, einziger Junge noch ein Opfer des unseligen Krieges geworden. Die Nachricht haben wir erst Ende Mai 1946 erhalten.

Neben der Brücke über den Kanal lagerten 2 große Bomben, die zur gegebenen Zeit alles in die Luft sprengen sollten. Zu diesem Befehl ist es nicht mehr gekommen.  

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Leider fehlen in der Chronik viele weitere Seiten, die offenbar herausgetrennt wurden. Somit können keine weiteren Auskünfte über die Endphase des 2. Weltkrieges bei uns in Holtgast gegeben werden.